MBING KW 7 FEM III - Nichtlineare Probleme
Überblick
Man kann zwischen linearem und nichtlinearem Tragverhalten unterscheiden. Bei linearem Tragverhalten besteht ein linearer, d.h. proportionaler, Zusammenhang zwischen Last und Tragwerksantwort. Doppelte Lasten rufen doppelte Verformungen und Schnittgrößen hervor, vierfache Lasten entsprechend vierfache Ergebnisse. Insbesondere gilt das Überlagerungsprinzip: die Tragwerksantwort infolge Eigengewicht plus Wind ergibt sich als die Tragwerksantwort infolge Eigengewicht plus die Tragwerksantwort infolge Wind. Wir können das wirkende Lastkollektiv in Lastfälle aufteilen, die jeder für sich separat berechnet werden.
Die Auswirkungen des Überlagerungsprinzips sind aber noch weitreichender. Alle Methoden, die Sie in der Lehrveranstaltung Statik kennengelernt haben, basieren stillschweigend darauf. Nehmen wir nur das Kraftgrößenverfahren mittels der δik-Zahlen. Hier entsteht die Lösung des statisch unbestimmten Systems als die Addition mehrerer Ergebnisse des statisch bestimmten Hauptsystems. Für jede Teillösung gilt außerdem: das Moment infolge X1 ist identisch zu X1 mal dem Moment infolge von X1=1. Es gilt also sowohl Additivität wie auch Proportionalität, sprich: wir haben ein lineares System. Hätten wir kein lineares Problem, würde das ganze Konzept der δik-Methode in sich zusammenbrechen und wir könnten auf diese Weise keine statisch unbestimmten Probleme lösen. Diese Aussage gilt nicht nur die δik-Methode: alle Verfahren, die Sie in Statik gelernt haben, wären hinfällig.
Da nicht zu erwarten ist, dass Ihnen zwei Semester lang Unsinn beigebracht wurde, steht zu vermuten, dass die meisten Tragwerke ein lineares Verhalten zeigen. Das ist in der Tat der Fall. Aber die meisten heißt: nicht alle. Also müssen wir uns die Frage stellen: unter welchen Umständen gilt die Linearitätsannahme nicht, und was machen wir in diesen Fällen? Es gibt zwei Quellen nichtlinearen Verhaltens: geometrische und physikalische Nichtlinearität. Was ist das?
Geometrische Nichtlinearität
Zur Berechnung von Schnittgrößen haben wir bisher Schnitte am unverformten Tragwerk geführt und für ein abgeschnittenes Teilsystem Gleichgewicht gebildet. Wenn wir etwas tiefer darüber nachdenken, ist dies jedoch genaugenommen falsch. Stellen wir uns eine Brücke vor, bei der ein LKW in der Mitte anhält. Durch den LKW biegt sich die Brücke durch, und dieses verformte Tragwerk muss im Gleichgewicht stehen. Die unverformte Brücke, d.h. ohne LKW, ist uninteressant. Wenn wir aber Gleichgewicht am verformten System bilden, geht die Proportionalität zwischen Last und Tragwerksantwort verloren. Das nennen wir geometrische Nichtlinearität, denn sie wird durch die Differenz zwischen der unverformten und verformten Geometrie hervorgerufen. Im Umkehrschluss heißt das, dass wir lineares Verhalten haben, wenn die Verformungen vernachlässigbar klein sind. Geometrische Nichtlinearität ist also mit großen Verformungen verknüpft. Dazu wiederum gehören die Stabilitätsprobleme wir Knicken von Stab- und Beulen von Flächentragwerken.
Physikalische Nichtlinearität
Physikalische Nichtlinearität tritt ein, wenn der proportionale Zusammenhang zwischen Verzerrung und Spannung verlorengeht, d.h. wenn es in irgendeiner Form zu Materialschädigung kommt. Dann gilt das Hookesche Gesetz nicht mehr und wir müssen komplexere Materialgesetze verwenden. Derartiges inelastisches Verhalten wird durch Zugrissbildung im Beton oder Fließen des Stahls hervorgerufen. Inelastizität tritt vor allen Dingen bei Extrembeanspruchungen auf, z.B. bei Erdbeben. Unter solchen Einwirkungen wäre es oftmals unwirtschaftlich, nach dem Beben ein vollständig ungeschädigtes Bauwerk sicherzustellen. Man wird gewisse Schädigungen akzeptieren, die aber nicht zum Einsturz führen dürfen.
In beiden Fällen – große Verformungen und inelastisches Materialverhalten – benötigen wir geeignete Rechenmethoden zur Ermittlung der Tragwerksantwort. Wie oben ausgeführt, versagen die klassischen Methoden der Statik.
Vorlesungsinhalte
Wir beginnen mit einigen einfachen Beispielen für geometrische und physikalische Nichtlinearität und schauen uns an, wie man hierfür anschaulich eine Lösung bestimmen kann. Da diese Lösungsansätze nur für ganz primitive Probleme anwendbar sind, leiten wir uns als nächstes Algorithmen in Form sog. inkrementell-iterativer Verfahren her, die universell für alle denkbaren Tragwerkstypen einsetzbar sind. Diese Verfahren verlangen in der Praxis ein numerisches Strukturmodell auf der Basis der Finiten Elemente. Aufbauend auf den uns schon bekannten Grundlagen der FEM erweitern wir diese um die sog. tangentiale Steifigkeitsmatrix und den Vektor der inneren Kräfte. Exemplarisch leiten wir uns diese Matrizen für den Fachwerkstab her. Es wird deutlich, dass eine analytische Bestimmung wenig sinnvoll ist. Noch mehr als im linearen Fall gilt: eine praxisgerechte Anwendung ist nur mittels entsprechender Software durchführbar.
Nachdem wir jetzt in der Lage sind, im Prinzip alles zu berechnen zu können, stellt sich die Frage, welche Phänomene es zu berechnen gilt. Hierfür betrachten wir einen ebenen Bogen als Beispiel für ein gekrümmtes Tragwerk. Dieses trügerisch einfache System zeigt die gesamte Bandbreite geometrisch nichtlinearer Phänomene auf: Spannungsprobleme, Durchschlags- und Verzweigungsprobleme, Imperfektions-empfindlichkeit. Von besonderem Interesse sind die Stabilitätsprobleme, da diese zu Versagen ohne Vorankündigung mit entsprechend großem Schadenspotential führen. Wir leiten aus dem allgemeinen nichtlinearen Berechnungskonzept zunächst eine nichtlineare Stabilitätstheorie ab, die in einem weiteren Schritt zur klassischen Stabilitätstheorie vereinfacht wird.
Eine vollständig nichtlineare Berechung ist sehr aufwendig und verlangt Spezialsoftware. Also hat man sich gefragt, ob es nicht für gewisse Fälle auch einfacher geht. In der Tat gibt es mit der sog. Theorie II. Ordnung eine zur klassischen Stabilitätstheorie konsistente Näherung, die aufgrund ihrer relativen Einfachheit große praktische Bedeutung für einfache Stabtragwerke besitzt. Wir leiten diese Näherung ab und diskutieren die Grenzen ihrer Gültigkeit.
Eine Kombination der nichtlinearen Algorithmen der Statik mit den Zeitverlaufsalgorithmen der Dynamik erlaubt es uns dann, auch beliebig nichtlineare dynamische Probleme anzugehen. Damit werden Spezialphänomene wie z.B. aeroelastische Instabilitäten berechenbar.
Am Ende streifen wir den Komplex physikalische Nichtlinearität. Dieses Thema ist äußerst umfangreich und komplex, da es eine Vielzahl von Materialien gibt und die Bildung von Schädigung auf die unterschiedlichsten physikalischen Prozesse zurückzuführen ist, deren mathematische Modellierung sich wiederum extrem schwierig gestaltet. Zu einer halbwegs erschöpfenden Behandlung brauchte man eine eigene Lehrveranstaltung. Wir müssen uns deshalb mit einer rudimentären Diskussion der sog. Klassischen Plastizitätstheorie zufriedengeben.
Zielgruppe
Die Veranstaltung richtet sich grundsätzlich an Studierende der Vertiefungsrichtung Konstruktiver Ingenieurbau und insbesondere an diejenigen, die sich für die Theorie der Tragwerke allgemein und für numerische Methoden insbesondere interessieren.
Voraussetzungen
Die formale Voraussetzung besteht in dem erfolgreicher Besuch der Veranstaltung „FEM I - Lineare Probleme“. Darüber hinaus sollte eine Begabung für Mathematik und Interesse an abstrakten, allgemeingültigen Lösungskonzepten vorhanden sein. Zum Verständnis der nichtlinearen Dynamik sind Kenntnisse der linearen Dynamik ( „Dynamik I - Grundlagen und Standardberechnungsverfahren“) vonnöten. Da dieses Thema nur eines von vielen ist, ist der Besuch der grundlegenden Dynamik-Veranstaltung nicht zwingend erforderlich.
Termine
Die Veranstaltung wird auf Nachfrage im Sommersemester angeboten.
Die Termine der Veranstaltung werden mit den Teilnehmern abgestimmt. Bei Interesse bitte Anmeldung per E-Mail an baumechanik[at]uni-wuppertal.de.
Downloads
Hier finden Sie die Downloads zum Modul MBING - KW 7 FEM IIII - Nichtlineare Probleme.
zuletzt bearbeitet am: 04.05.2022